Regel? Von wegen.

Von Dekan Pater Bruno Rieder
Benediktinerkloster Disentis

Sie gehen in eine Buchhandlung und sehen ein Buch «Regel des Benedikt von Nursia». Sie haben vom Autor noch nie gehört; auch sein Buch ist Ihnen unbekannt. Würden Sie das Buch in die Hand nehmen? Wohl kaum.

Wer interessiert sich schon für «Regeln», wenn er nicht gerade die theoretische Autofahrprüfung vorbereiten muss. Mit «Regel» assoziiert man Einengung, Beschneidung der Freiheit, Vorschriften und Sanktionen. Es kommt einem zunächst nicht in den Sinn, dass auch ein spannendes und vergnügliches Spiel erst mit Hilfe von «Regeln» zustande kommt. Gleich neben dem «Regel»-Buch finden Sie in der Buchhandlung eine Unmenge an Ratgebern und Anleitungen. Beim grössten Internetbuchhändler Amazon findet man allein 289 «Anleitungen zum Glücklichsein». Deshalb trägt auch die sehr empfehlenswerte Ausgabe der Benediktsregel durch den verstorbenen Abt Georg Holzherr von Einsiedeln den Untertitel «Eine Anleitung zu christlichem Leben».

Damit ist gesagt:

Die Benediktsregel ist kein bloss internes Reglement für Klöster. Jeder Christ, jede Christin findet darin Hilfestellung für den inneren und den gemeinsamen Weg.

Gleichwohl wurde die Benediktsregel primär für Mönche und Nonnen verfasst. Und sie entstand vor circa 1500 Jahren.

Viele Formulierungen und Detailbestimmungen sind für einen heutigen Leser fremd, ja unverständlich. Die neue Rubrik «Regula Benedicti» (abgekürzt: RB) in unserer Zeitschrift DISENTIS versteht sich als Übersetzungsarbeit:

  •  Welcher Hintergrund macht die einzelnen Bestimmungen der Regel erst verständlich?
  • Wie lässt sich die Aussage-Absicht Benedikts im Kontext des 21. Jahrhunderts neu formulieren – nicht bloss für Insider, sondern für suchende Menschen?

 

In jeder Nummer von DISENTIS wird ein Abschnitt der Regel im Originalton präsentiert und durch einige hoffentlich hilfreiche Hinweise kommentiert.

Was meint Benedikt mit dem Begriff «Regula»? Seinen eigenen Text versteht er als Konkretisierung der grundlegenden «Regel», nämlich der Heiligen Schrift. «Ist denn nicht jede Seite oder jedes von Gott beglaubigte Wort des Alten und Neuen Testamentes eine verlässliche Wegweisung für das menschliche Leben?», fragt er am Ende der Regel (RB 73,3). Das tragende Gerüst der Benediktsregel besteht deshalb aus wörtlichen Bibelzitaten oder Anspielungen auf die Heilige Schrift. Die Regel erscheint heute an manchen Stellen schwerverständlich oder produziert sogar Missverständnisse, weil die gründliche Vertrautheit mit der Bibel nicht mehr zum selbstverständlichen Bildungshintergrund gehört.

Wegweisung für den Christen wird nicht nur schriftlich weitergegeben, sondern auch durch das mündliche Wort und das Lebensvorbild erfahrener Christen. Deshalb versteht Benedikt Mönchtum als Leben «unter Regel und Abt» (RB 1,2). Es gilt, stets die Spannung zu wahren zwischen Charisma und Institution, zwischen geistgewirkter Berufung und der Unterordnung unter legitime Autoritäten, zwischen individuellem geistlichem Fortschritt und der Einfügung in eine festgelegte Lebensordnung. Wird einer dieser Pole aufgelöst, kann nichts gedeihen, denn sowohl Chaos als auch Überreglementierung ersticken Leben.

Benedikt orientiert sich an der ihm vorausliegenden Tradition in Schrift und Wort. Originalität ist ihm fremd. In reichem Mass greift er neben der Bibel auf die Schriften der Kirchenväter und auf vorausgehende Klosterregeln zurück.

 Seine wichtigste Quelle ist die sogenannte Magisterregel eines unbekannten Verfassers, der sich «Magister/Meister» nennt.

Doch gerade der genaue Vergleich der Benediktsregel mit der Magisterregel lässt die individuellen Charakterzüge Benedikts hervortreten. Benedikt hat ein zwar realistisches, aber optimistischeres Menschenbild als der Magister: Er traut dem Einzelnen grössere Verantwortung zu. Er gibt auch der horizontalen Ebene der klösterlichen Beziehungen mehr Gewicht gegenüber den hierarchischen Strukturen.

Wofür bietet die Benediktsregel Weisung? Ein knapper Überblick. Nach einer Erinnerung an die Basics christlichen Lebens im «Prolog» stellt Benedikt klar, dass seine Regel für Zönobiten, also Mönche in Gemeinschaft, geschrieben ist (RB 1-3). Die beiden wichtigsten Führungsorgane dieser Gemeinschaft von «Brüdern» sind der Abt und der «Rat der Brüder».

Ein Kloster ist jedoch kein Unternehmen, kein Verein, sondern eine Kommunität von Mönchen – das heisst von Menschen, deren vorrangiges Ziel das persönliche Streben nach der immer engeren Gemeinschaft mit Jesus Christus ist. Deshalb legt Benedikt in den Kapiteln 4–7 die «geistliche Kunst» dar. Welche Grundhaltungen muss jemand einüben, um ein reifer Mensch und Christ zu werden? Vorrangig nennt Benedikt die Tugenden des Gehorsams, der Schweigsamkeit und der Demut, die den Menschen gefügig machen, in der Nachfolge Christi den Willen des himmlischen Vaters zu vernehmen und zu tun.

Ein Kartäusermönch schrieb einmal: «Je komplizierter wir sind, desto mehr entfernen wir uns von Gott; andererseits kommen wir Ihm umso näher, je einfacher wir werden. (…)

Nichts vereinfacht alles dermassen wie die Liebe; es gibt also eine Art von Schwierigkeit, nämlich die Kompliziertheit, welche die Seele, die sich Gott anvertraut, sorgfältig vermeidet. (…) Die Einfachheit ist die Handschrift Gottes.»

Deshalb fasst der heilige Benedikt seine gesamte Weisung in einem knappen Wort zusammen: «Der Liebe Christi nichts vorziehen» (RB 4,21; vgl. RB 72,11). Dieses Leitwort umfasst ein Zweifaches: restlos empfänglich sein für die Liebe, die Christus mir schenkt; die empfangene Liebe weiterschenken und aus ganzem Herzen Christus lieben, besonders auch im Mitmenschen. Die intensivste Form der Christusbegegnung ist der christliche Gottesdienst. Darum formuliert Benedikt ein paralleles Leitwort: «Dem Gottesdienst soll nichts vorgezogen werden» (RB 43,3).

Bevor deshalb Benedikt zu den Regeln für die Gestaltung des Gemeinschaftslebens kommt, ordnet er in den Kapiteln 8–20 das gemeinsame Gebet der Mönche. Dieses soll Priorität im Tagesablauf haben und unverzichtbare Kraftquelle sein für Arbeit und Zusammenleben.

Gemeinschaftsleben und Tätigkeiten werden in den folgenden Kapiteln 21–52 geregelt. Kein Bereich ist dabei einfach profan; alles wird unter der Perspektive gesehen, was auf dem Weg zu Gott hindert oder fördert. Dieser Blickwinkel gilt ebenso für den Umgang mit Regelverletzungen, dem zwei grössere Einschübe (RB 23–30 und RB 43–46) gewidmet sind.

Ziel ist nie, Ruhe zu haben vor Störenfrieden, damit der Betrieb gut läuft. Sondern jede Reaktion auf abweichendes Verhalten soll therapeutisch sein und den fehlbaren «Bruder» neu für die Gemeinschaft und für Gott gewinnen.

Obwohl ein Benediktinerkloster möglichst autark sein soll, damit der Raum der Stille und Sammlung geschützt bleibt (vgl. RB 66,6–7), waren und sind Klöster nie isolierte Inseln. Die verschiedenen Formen von Aussenbeziehungen regelt Benedikt in den Kapiteln 53–61, sei es durch die Aufnahme von Gästen, Handelsbeziehungen oder die Aufnahme von neuen Mönchen. Heute würde Benedikt an dieser Stelle wohl ein Kapitel über den Umgang der Mönche mit dem Internet einfügen.

Benedikt versteht sein Kloster als «eine Schule für den Dienst des Herrn» (Prolog 45). Der Mönch ist deshalb ein lebenslang Lernender. Davon nimmt sich der Ordensvater nicht aus: Die Schlusskapitel 62–72 sind höchstwahrscheinlich Nachtragskapitel, die Frucht seiner jahrelangen Erfahrung als Abt und seines Hörens auf die Mitbrüder. Seine Weisungen sind nun noch mehr geprägt von der Rücksichtnahme auf die Schwächen der Mönche und von der gegenseitigen Liebe unter den Brüdern. Benedikt schliesst mit einem Epilog, der nochmals an das Ziel des Weges erinnert, wofür die Regel Kompass sein will: «Wenn du also zum himmlischen Vaterland eilst, wer immer du bist, nimm diese einfache Regel als Anfang und erfülle sie mit der Hilfe Christi» (RB 73,8).

Die Regel ist also lebbar für einen jeden Menschen. Wer sie zur Richtschnur für sein Leben nimmt, hat nur demütig ein Dreifaches zu akzeptieren:

Bevor ich das Ziel erreiche, muss ich geduldig einen längeren Weg gehen. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen – ausser Jesus Christus. Ohne seine Hilfe werde ich nie zu den «Höhen der Lehre und Tugend gelangen» (RB 73,9).

Werden wir damit auf ein Jenseits vertröstet? Hat die Regel Benedikts keinen Platz unter den «Anleitungen zum Glücklichsein»? Wer vollkommenes Glück erstrebt, der wird zwar tatsächlich «das ewige Leben mit allem geistlichen Verlangen ersehnen» (RB 4,46). Doch Benedikt verspricht schon in diesem Leben die Erfahrung erfüllten Daseins dem, der den Weg geht, den die Regel vorzeichnet: «Wer aber im christlichen Leben und im Glauben fortschreitet, dem wird das Herz weit, und er läuft in unsagbarem Glück der Liebe den Weg der Gebote Gottes» (Prolog 49).

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